Im Gespräch mit
Stephen Shore
New York City, USA
Einleitung
Mit großer Freude darf Situatifé einen der bedeutendsten Fotografen der Gegenwart präsentieren: Stephen Shore. Der gebürtige New Yorker, Jahrgang 1947, gilt als Pionier der amerikanischen Farbfotografie und ist für die heutige Generation von Fotograf:innen ein unbestrittener Referenzpunkt. Bereits im Alter von 17 Jahren frequentierte Shore in Andy Warhols Factory und dokumentierte das damalige Treiben mit seiner Kamera. Hierzu sei der Bildband „Factory. Andy Warhol.“ aus dem Jahr 2016 empfohlen. 1971 stellt er als erster lebender Fotograf im New Yorker Metropolitan Museum of Art aus. Es folgten zahlreiche Ausstellungen, weltweit. 1982 wurde er zum Direktor des Fotografie-Programms am Bard College in New York ernannt, wo er heute als Susan Weber Soros Professor für Kunst tätig ist. Neben seiner fotografischen und akademischen Laufbahn hat Stephen Shore seither diverse Bücher veröffentlicht: Darunter den Klassiker „Uncommon Places“ aus dem Jahr 1982, „The Nature of Photographs“ (Anleitung zum Betrachten und Verstehen von Fotografien) und das experimentelle Memoirenbuch „Modern Instances. The Craft of Photography. A Memoir.“. Für den kommenden Winter ist ein weiteres Buch über seine Drohnenfotografie der letzten zwei Jahre geplant.
Für ein klassisches Interview stand Stephen Shore zwar leider nicht zur Verfügung, dennoch nahm er sich die Zeit, um für Situatifé einen Essay über die analoge und letztendlich auch digitale Fotografie zu verfassen. Vielen Dank!
Analog
Vor etwa fünfzehn Jahren hatte ich eine zweijährige Gastprofessur an einer der besten Kunstschulen in Europa. Ich flog alle zwei Monate dorthin und leitete einen laufenden Workshop mit einer ausgewählten Gruppe der talentiertesten Studenten der Schule. Im zweiten Jahr bemerkte ich, dass etwas nicht stimmte. Es ist schwer zu beschreiben, aber etwas fehlte in ihren Bildern. Es fehlte der Sinn für den Druck als visuelles Objekt. Und obwohl die Bilder alle in Farbe waren, war es einfach die Farbe der Welt; es wurde weder über die Farbpalette des Bildes noch über die Organisation der Farbe innerhalb des Bildraumes nachgedacht. Wie ich schon sagte, es ist schwer zu beschreiben. Ich fragte mich, wie sich diese zweite Klasse von der ersten unterschied. Als ich mit ihnen sprach, erfuhr ich, dass keiner von ihnen jemals einen Fuß in eine Dunkelkammer gesetzt hatte. Im Jahr davor waren es einige. Dies war das Jahr mit den wenigsten. Mir wurde klar, dass man durch die Arbeit in der Dunkelkammer etwas Wichtiges, aber nicht Greifbares, gewinnt. Diese Erfahrung überzeugte mich davon, dass die analoge Fotografie, sowohl das Filmen als auch die Herstellung von Abzügen, eine wesentliche Lernerfahrung ist.
Ich bin der Leiter des Fotografieprogramms am Bard College im New Yorker Hudson Valley. Unsere Studenten verbringen das erste Jahr damit, 35-mm- (und gelegentlich 120-mm) Schwarz-Weiß-Filme aufzunehmen und zu drucken. Das Fotografieren mit Film kann dazu führen, dass man mit größerer Intention arbeitet und sich jede Belichtung genauer ansieht. Das Entwickeln von Abzügen in der Dunkelkammer – die Wahl der Belichtungszeit und des Kontrasts – und das anschließende Auswerten der Abzüge im Licht und ggf. das Nachbelichten können dazu beitragen, ein intuitives Gefühl für das physische Bild zu entwickeln. Dies führt auch zu einem subtileren Bewusstsein für das Licht beim Fotografieren. Ein Jahr lang auf diese Weise zu arbeiten, bereitet unsere Studenten auf unseren meiner Meinung nach wichtigsten Kurs vor: Die Fachkamera. Alle unsere Studenten arbeiten ein Semester lang nur mit einer 4×5-Fachkamera. Diese Kamera führt mehr als jede andere zu einem gesteigerten Bewusstsein für alle Entscheidungen, die bei der Herstellung eines Bildes getroffen werden. Es gibt mehrere Faktoren, die dazu beitragen:
Die Größe und Genauigkeit des Bildes auf der Mattscheibe führt zu klareren Entscheidungen. Wenn man das Bild auf der Mattscheibe sieht, wird intuitiv deutlich, dass man ein flaches, begrenztes Bild betrachtet und nicht die ganze Welt. Je weniger Belichtungen gemacht werden, desto bewusster werden die Entscheidungen. Die Tatsache, dass die Kamera auf einem Stativ steht, führt zu einem körperlichen Bewusstsein für die Positionierung der Kamera. Entscheidungen werden nicht nur mental, sondern auch physisch getroffen.
Und schließlich zwingt die Tatsache, dass die Kamera keine Verlängerung des Auges ist, dass man nicht durch die Kamera schaut, um ein Bild zu finden, den Fotografen dazu, das Bild zu konzipieren – ein mentales Bild des Fotos zu schaffen, das er machen will. Man hat ein geistiges Bild von dem Bild, DANN stellt man die Kamera ein. Dies kann dazu führen, dass das resultierende Bild mit bewusster Aufmerksamkeit aufgenommen wird.
Nachdem unsere Studenten ein Semester lang mit einer Fachkamera gearbeitet haben, wechseln die meisten zur Digitalkamera. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich ihre Sehgewohnheiten nach dem Umgang mit der Fachkamera für immer intensivieren, selbst wenn sie nur ihr iPhone benutzen.
Bis auf wenige Ausnahmen habe ich seit zwanzig Jahren keinen Film mehr benutzt. Die digitale Bildgestaltung ist beeindruckend. Meine Hasselblad H1d hat einen weitaus größeren Dynamikbereich als Film. Da die Digitalfotografie nicht unter den chemischen Unzulänglichkeiten des Films leidet (die sich in der HD-Kurve ausdrücken), ist die Tonwertabstufung in den niedrigen Werten besser als beim Film, und der lästige Blaustich, der in den Schatten auftreten kann, fällt weg. Mit meiner H1d kann ich mit der Mobilität und Spontanität der Freihandfotografie arbeiten, aber ich kann einen 120x150cm-Abzug machen, der eine höhere Auflösung hat als ein 8×10-Negativ. (Ich habe Tests durchgeführt). Und die Tonwerte sind wunderschön. Damit kann ich ein Bild machen, das vor fünf Jahren noch nicht möglich gewesen wäre. Es eröffnet enorme neue ästhetische Möglichkeiten.
Ein letzter Gedanke zur Arbeit mit einer Digitalkamera. Ich hatte die Spontanität erwähnt. Diese ergibt sich daraus, dass digitale Bilder nichts kosten und die Kamera nicht nachgeladen werden muss. Aber Spontanität ist eine Medaille mit zwei Seiten. Sie kann zu visuellen Ausschweifungen führen, zu Aufnahmen ohne Intention. Aber das muss nicht der Fall sein. Eine Digitalkamera kann mit der geistigen Klarheit einer 8×10-Kamera verwendet werden. Wenn ein Fotograf in einem Flow-Zustand arbeitet, kann er gleichzeitig spontan und absichtsvoll sein.
Ausgewählte Arbeiten
© Stephen Shore. Courtesy 303 Gallery, New York.